Das Fenster der Träume

Eigentlich hätte Herr Baumgarten genug Gründe gehabt, glücklich zu sein. Dennoch hatte er sich dagegen entschieden.

Er hatte einen ansehnlichen Job, der zwar Essen auf den Tisch brachte, aber einfach nicht zu erfüllen wusste; er hatte eine nette Wohnung am Stadtrand mit einem gepflegten Gärtchen, aber nun mal keine schicke Villa; er hatte eine liebenswürdige Frau, die mit den Jahren aber nicht gerade attraktiver wurde; und das akribische Sammeln kleiner Spielzeugfiguren hatte ebenfalls seinen Reiz verloren, seit diese aus den Cornflakes-Packungen verschwunden waren.

Ein winziger Lichtblick war, als sein letzter verbliebener Onkel verstarb, und er als einziger übriggebliebener Verwandter das alte Baumgarten-Familienhaus erbte. Es hatte einige Jahre leer gestanden, nachdem seine Grosstante sich damals darin erhängt hatte. Die Freude über das Erbe war allerdings nur von kurzer Dauer. Leider stellte sich alsbald heraus, dass das Haus trotz seiner historischen Signifikanz und der Jugendstil-Bauweise ziemlich renovationsbedürftig und daher absolut wertlos war.

Es war ein verregneter Samstagnachmittag, als Herr Baumgarten grimmig und schlechtgelaunt mit seiner Frau Dagmar den Dachboden des Hauses räumte, um zumindest dort irgendwas von Wert zu finden. Als Kind hatte er das Haus ein paarmal besucht, gemeinsam mit seinen Eltern, doch an den Dachboden konnte er sich nicht erinnern. Alles war zugestellt mit unzähligen Kisten und Schachteln, die allesamt von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Abgesehen von ein paar Spinnen, die ungehindert ein beeindruckendes und künstlerisch anmutendes Netz gewebt hatten, schien schon seit Jahren niemand mehr auf dem Dachboden gewesen zu sein. Die Deckenlampe funktionierte nicht, und das einzige Fenster – ein rundes, antikes Fenster mit weissem Holzrahmen – war so verschmutzt, dass kaum Licht hindurch drang. In dieser Dunkelheit konnte Herr Baumgarten kaum erkennen, was sich in den Holzkisten befand.

Umso grimmiger stieg er die Holztreppe nach unten und holte einen Lappen aus der Küche. Dagmar begleitete ihn und blieb gerade dort, um das Abendessen vorzubereiten. Wieder zurück wischte Herr Baumgarten mit dem Lappen über die schmutzige Scheibe, die die Frechheit besass, lediglich lange Schlieren zu ziehen. Also schrubbte Herr Baumgarten, fester und fester und wütender und wütender, bis er schliesslich mit Schweisstropfen auf der Stirn eine kleine Stelle sauberkriegte. Ein schmaler gelber Lichtkegel schien durch die Fensterscheibe auf den Holzboden – was seltsam war, schliesslich war es draussen wolkig und grau. Hatten die verdammten Idioten von der Stadtverwaltung etwa eine neue Strassenlaterne direkt vor dem Haus aufgestellt?

Echauffiert spähte er durch das Loch – und in diesem Moment stockte ihm der Atem. Sein Lappen fiel ihm aus der Hand. Anstatt, wie es sich gehörte, den Blick über die Strasse freizugeben, zeigte das Fenster einen anderen Raum. Viel konnte Herr Baumgarten durch die schmale Öffnung nicht erkennen, doch er war sich sicher, eine Art Wohnraum mit Tisch und Sofa erblicken zu können. Sofort nahm er den Lappen wieder auf und wischte mit aller Kraft weiter. Ungeduldig entschied er sich dazu, das Fenster einfach direkt zu öffnen, das Scharnier klemmte jedoch. Erst jetzt bemerkte er einen kleinen Zettel, der hinter das Scharnier geklemmt war. ‘Niemals öffnen!’ stand in vergilbten Lettern geschrieben. «Ach papperlapapp», dachte er sich. Er musste wissen, was sich hinter dem Fenster verbarg. Doch so sehr er auch daran rüttelte, es wollte einfach nicht nachgeben.

Er brachte einen Eimer Seifenwasser aus der Küche und begann voller Elan die Scheibe zu schrubben. Stundenlang dauerte es – die Rufe seiner Frau, er solle zum Abendessen kommen, ignorierte er – bis er schliesslich das gesamte Glas freigelegt hatte. Dann kniete er sich davor und starrte hindurch. Er blickte direkt in ein schön eingerichtetes Wohnzimmer mit einem grossen Tisch aus edlem Holz in seiner Mitte. Ein Feuer flackerte im Kamin. Dutzende teure Skulpturen und Gemälde zierten den Raum. Hier wohnte jemand mit Geschmack, und vor allem – was Herrn Baumgarten vor Neid platzen liess – mit Geld.

Nach einigen Minuten, in denen Herr Baumgarten sabbernd vor dem Fenster kniete, betrat plötzlich jemand das Wohnzimmer. Eine wunderschöne Frau in einem eleganten Mantel, hinter ihr zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Sie sahen aus wie aus einem Reisekatalog, glücklich lachend und strahlend. Dann kam ein Mann in das Zimmer und legte sein Jackett über einen Ledersessel. Er war klein und untersetzt und wollte so gar nicht zu der hochgewachsenen blonden Frau passen. Herr Baumgarten musterte den Mann. War das etwa ... er selbst?

«Was machst du immer noch hier oben?», hörte er eine vertraute Stimme hinter ihm. «Ich hab dich gerufen.»

Erschrocken wandte sich Her Baumgarten um und starrte in das gehässige Gesicht seiner Frau. «Ich...», stotterte er noch völlig fassungslos. «Sieh dir das doch mal an.»

Dagmar stellte sich neben ihn und blickte ebenfalls durch das Fenster. Zuerst kniff sie die Augen zusammen, dann riss sie sie schlagartig auf. «Was zum Teufel ist das?»

«Das bin ich, also ich vermute es zumindest. Aber ist das nicht ein vorzügliches Haus?» So eines, wie er sich immer gewünscht hatte, dachte er dazu.

«Wovon sprichst du?», fragte Dagmar. «Wo soll hier ein Haus sein? Zwischen den Palmen etwa? Ach, ich wollte immer an genau so einen Ort reisen. Mit Meer und Strand und absoluter Ruhe. Aber, sag mal, wie genau funktioniert das?» Sie klopfte mit den Knöcheln gegen die Glasscheibe.

Das konnte Herr Baumgarten auch nicht beantworten. Aber langsam dämmerte ihm, dass er hier etwas Magischem auf der Spur war.

Die nächsten Nächte verbrachte Herr Baumgarten fast ausschliesslich damit, vor dem Fenster zu sitzen und seinen Doppelgänger zu beobachten. Sein eigenes Leben empfand er dabei immer belangloser. Und wieso auch nicht? Alles auf der anderen Seite war schliesslich perfekt, wie konnte sein echtes Leben da mithalten? Dagmars Eintopf war geschmacklos und fad, verglichen mit der festlich garnierten Gans, die auf der anderen Seite aufgetischt wurde. Und die Frau war eine absolute Augenweide, wie sie mit aufreizenden Kleidern durch das Wohnzimmer tänzelte und sein anderes Ich verliebt anhimmelte. Die hübschen Kinder waren aufgeweckt und höflich. Ach, könnte er nur mit seinem Doppelgänger tauschen. Alles würde er dafür geben.

Und Dagmar schien es genauso zu gehen. Manchmal ertappte Herr Baumgarten sich dabei, wie er nachts aufwachte und sich heimlich aus dem Schlafzimmer und auf den Dachboden schlich, nur um dann enttäuscht festzustellen, dass Dagmar bereits vor dem Fenster sass und ihren eigenen Träumen hinterherschmachtete. Sie schien regelrecht süchtig zu sein. Und da kam Herrn Baumgarten eine Idee.

Nur wenig später wusste jeder in der Nachbarschaft von dem geheimnisvollen Fenster. Allen hatte er es erzählt. Selbst kleine Flugblätter mit der Aufschrift ‘Betrachten Sie, wer Sie sein könnten, und bestaunen Sie Ihre grössten Wünsche’ hatte er gedruckt und überall verteilt. Schon bald standen zahllose Besucher bis vor die Haustür Schlange, nur um für fünf Minuten ihr besseres Leben sehen zu können. Und wer einmal durch das Fenster geblickt hatte, kam immer wieder. Natürlich liess sich Herr Baumgarten das gut bezahlen. Und zahlen taten sie. Völlig egal, wie hoch der Preis war. Wie Junkies auf Drogenentzug warteten sie um jede Uhrzeit vor dem alten Haus und hofften auf ihren nächsten Fix.

Innerhalb kürzester Zeit wurde Herr Baumgarten reich. Er tauschte seinen alten Wagen durch einen Porsche 911 aus, stattete sich mit den edelsten Kleider aus und stellte sich überteuerte Skulpturen in sein Haus. Wie besessen eiferte er seinem Doppelgänger nach, bis sein ganzes Wohnzimmer haargenau so aussah wie das seines Vorbilds.

Doch als er dann mal wieder durch das Fenster spähte, musste er mit Bedauern feststellen, dass auch sein Doppelgänger nicht tatenlos geblieben war. Mittlerweile wohnte er in einem regelrechten Anwesen, mit hohen Decken und Kronleuchtern und einem Aquarium im Wohnzimmer, das mindestens so gross war wie eine Garage. Er trug eine goldene Uhr und diamantbesetzte Ringe. Seine Kinder spielten am Pool, der durch die Terassentür sichtbar war, und seine Gattin war zur schönsten Frau mutiert, die Herr Baumgarten jemals gesehen hatte.

«Hast du schon mal über eine Schönheits-OP nachgedacht?», fragte er eines Abends Dagmar. «Was immer du möchtest, ich bezahle dafür.»

Seine Frau schenkte ihm einen angeekelten Blick. «Hast du völlig den Verstand verloren? Du verbringst viel zu viel Zeit dort oben. Das ist nicht gesund. Sieh dich doch nur mal an. Du bist völlig abgemagert und deine Augenringe reichen bis zum Boden. Dein Essen rührst du kaum noch an.»

Aber wieso sollte er auch? Sein Doppelgänger hatte mittlerweile einen eigenen Koch und einen Butler. Herr Baumgarten musste noch mehr Geld verdienen, er musste das Fenster in der ganzen Welt publik machen, er musste... Er musste durch das Fenster hindurch auf die andere Seite! Dort wäre er endlich wirklich glücklich. Dort hätte er alles, was er sich nur erträumen könnte.

In dieser Nacht ging er mal wieder ganz allein auf den Dachboden. Die Besucher hatte er alle abgewimmelt. Er bäumte sich breitbeinig vor dem Fenster auf und starrte auf sein Gegenüber. Dieser liess sich gerade von einer entzückenden Dame den Rücken massieren, während er an einer Zigarre paffte. Für einen Moment hatte Herr Baumgarten das Gefühl, sein Doppelgänger zwinkere ihm zu.

«Verdammter Mistkerl!», brüllte Herr Baumgarten. Er rüttelte wie verrückt am Scharnier, doch noch immer liess es sich nicht öffnen. Also griff er nach einem Hammer und schlug damit gegen die Scheibe. Ein Hieb, dann noch einer. Langsam zogen sich Risse über das Glas. Immer weiter hämmerte er darauf ein, bis die Scheibe einem Mosaik glich, doch sie wollte einfach nicht zerbrechen. Völlig ausser Atem holte Herr Baumgarten Anlauf und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Fenster, und in diesem Moment gab das Glas schliesslich nach. Er stürzte hindurch, hinab und hinab, bis er auf dem Asphalt seiner Garageneinfahrt aufschlug und sich das Genick brach.

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