Das ist ein Kapitel für mein Buch “Die Immerwolken”, welches es leider nicht in die finale Fassung geschafft hat. Es beschreibt einen Moment aus dem Leben von Alva Corvus.

Die Immerwolken: Salz

«Hab ich etwa gesagt, du darfst Pause machen?», schrie Herr Hardgold, ein fetter und ekliger Abklatsch eines Sklaventreibers. Kleine Speichelperlen regneten auf den Boden. Er liess die Treibschnur seiner Peitsche knapp neben Alvas Schläfe vorbeischnellen. Der zischende Knall schmerzte in ihren Ohren, sein Echo hallte durch die verwinkelten Gänge der Salzmine.

Alvas Hände bluteten vom stundenlangen Herausschlagen der Salzsteine. Sie fror und hungerte, war erschöpft und ausgelaugt. Ihr grauer Stofffetzen eines Kleids hing schlaff über ihren abgemagerten Körper. Mit zittrigen Händen hob sie den rostigen Meissel, der ihr versehentlich heruntergefallen war, vom Boden auf, setzte ihn wieder an der Steinspalte an und hämmerte weiter. Herr Hardgold schnaubte und knirschte mit den Zähnen. Doch dann ging er glücklicherweise weiter. Er drohte zwar gerne, aber Hand anlegen an ihr würde er niemals tun. Im Gegensatz zu den anderen Sklaven war sie unantastbar. Zumindest für ihn.

Die Sonne musste endlich untergegangen sein, denn wie jeden Abend kamen zwei bewaffnete Männer in die Mine und gaben Alva und den übrigen Sklaven zu verstehen, dass es Zeit war, die Mine zu verlassen. Mit einem Schlüssel löste einer von ihnen die Ketten von den Beinen der Sklaven, die jeglichen Fluchtversuch verhindern sollten. Beim Herausgehen tastete Hardgold die anderen von Kopf bis Fuss ab, um sicherzugehen, dass niemand Salz oder Werkzeug mitgehen liess. Bei Alva hielt er sich zurück, wie er es meistens tat.

Danach wurden sie auf der Ladefläche einer Dampfkutsche wie Vieh zurück in ihren ‘Stall’ gebracht, ein heruntergekommenes Personalhaus auf dem prachtvollen Anwesen des Grafen von Batterbee. Der gut zehnminütige Weg von der Mine zum Personalhaus war für Alva jeweils die einzige Möglichkeit, etwas anderes als kalten Stein um sich herum zu sehen. Hier konnte sie die Schönheit der Natur bewundern - die von der Gärtnerin penibel gestutzten Bäume, Sträucher und Blumen auf dem riesigen Anwesen. Die einzige kleine Freude, die Alva in ihrem Alltag kannte.

Die dreizehn anderen Sklaven, die gemeinsam mit Alva in der Salzmine schufteten, teilten sich einen feuchten, staubigen Kellerraum, in dem sie auf schäbigen Haufen aus Heu und Dreck schlafen mussten. Aber nicht so Alva. Sie hatte ihr eigenes Zimmer, direkt gegenüber des Massenschlags. Der Raum der anderen war durch ein Gitter zugesperrt. Alva hingegen hatte eine eigene Tür. Sie hatte sogar ein richtiges Bett. Doch sie hätte alles gegeben – wenn sie denn etwas besessen hätte –, um zurück zu den anderen Sklaven gehen zu können. Den einzigen Freunden, die sie hatte.

Vor fast drei Jahren, als Alva ungefähr zwölf gewesen war – so genau wusste sie das nicht, schliesslich kannte sie das Datum ihrer Geburt nicht – liess der Graf von Batterbee sie in dieses Zimmer bringen. Und es dauerte nicht lange, bis sie erfahren musste, weshalb. Der Graf hatte nämlich Gefallen an jungen Mädchen gefunden, und so kam er sie in so mancher Nacht besuchen.

Seit Alva als Kind in die Sklaverei verkauft worden war, sah jeder Tag für sie gleich aus. Sie schuftete, sie schlief, sie schuftete weiter, und musste währenddessen die schrecklichsten Dinge über sich ergehen lassen. Doch an diesem verhängnisvollen Morgen sollte sich etwas Grundlegendes ändern.

Die vierzehn Sklaven mussten wie immer in Reih und Glied vor dem Personalhaus antreten, damit der abscheuliche Herr Hardgold sie nach Lust und Laune inspizieren konnte. Er überprüfte, ob sie noch genug Kraft zum Arbeiten hatten. Falls das nicht der Fall war, wurde der betroffene Sklave fortgebracht. Wohin, wusste niemand. Aber zurück kam keiner von ihnen. Hardgold machte sich jedes Mal einen Spass daraus, die Sklaven möglichst lange hinzuhalten. Er werweisste und überlegte mit Hochgenuss, schlug und trat währenddessen auf sie ein und beschimpfte sie, bevor er sich letzten Endes entschied, wer bleiben konnte und wer nicht.

An diesem Tag aber hatte Hardgold ein junges Mädchen an seiner Seite. Sie war gut ein Kopf kleiner als Alva, war genauso abgemagert und stand mit zusammengekauerter Haltung da, ihren Blick verunsichert auf den Boden gesenkt. Ihre Hände waren noch zart und unverbraucht. Viel geschuftet hatte sie bisher also noch nicht.

«Wir haben hier ein Neue», keifte Hardgold. «Seht zu, dass sie sich schnell einlebt.» Dann schritt er auf Alva zu, beugte sich zu ihr herunter und flüsterte etwas, sodass nur sie es hören konnte: «Das heisst für dich, dass du zu den anderen in den Stall kommst. Schluss mit deinen Privilegien.» Eine unheimliche Düsternis lag in seinen Worten, als er sie mit seinen verfaulten Zähnen angrinste.

Doch Alva begriff sofort. Dieses arme Mädchen würde sie ersetzen.

 

Den ganzen Tag über, während Alva unermüdlich gehämmert und sich dabei die eben erst verheilten Wunden an den Händen wieder aufgerissen hatte, waren ihre Gedanken nur um eine Sache gekreist. Sie würde aus ihrem Zimmer ziehen und zu den anderen zurückkehren. Die Besuche des Grafen von Batterbee würden endlich ein Ende finden, doch von nun an würde sie der Brutalität von Herrn Hardgold ausgeliefert sein. Und dann dieses arme Mädchen. Alva wusste genau, welches Schicksal auf sie wartete.

«So, und jetzt mach, dass du hier rauskommst», schnauzte Hardgold und schubste Alva aus ihrem Zimmer. Das neue Mädchen stand bereits im Flur bereit, der von einer einzigen, schwach flackernden Gaslaterne erhellt wurde.

«Wie heisst du?», flüsterte Alva ihr zu, während Hardgold schludrig das Zimmer herrichtete.

Das Mädchen starrte wie versteinert zu Boden. «Emily», hauchte sie kaum hörbar.

Alva wollte gerade etwas anfügen, als Hardgold bereits wieder hinter ihr stand und sie kraftvoll am Arm packte. Er zerrte sie durch die offene Gittertür in den Kellerraum und stiess sie dort zu Boden. Die Sklaven blickten besorgt in ihre Richtung, versuchten dabei aber jeglichen Augenkontakt mit Hardgold zu vermeiden.

«Es ist gut, dass du nun bei uns bist», flüsterte ihr der gutmütige Tim zu. Er war schon da gewesen, als Alva damals hierher verfrachtet wurde. Ein schlaksiger Mann mit blondem Bart, der sogar in den schlimmsten Zeiten noch ein Lächeln aufbringen konnte.

«Ruhe!», brüllte der Sklaventreiber und schlug mit seinem Schlagstock gegen das Gitter. Tim zuckte zusammen, während Hardgold ihn mit seinen dämonischen Augen fixierte. Alva kroch in der Zwischenzeit auf allen Vieren auf einen freien Heuhaufen zu, ihr künftiges Bett.

«Lass ihn in Frieden», sagte plötzlich ein grossgewachsener Sklave, der in der hintersten Ecke des Raums sass. Es war äusserst ungewöhnlich, dass er sich mit dem Sklaventreiber anlegte.

Entsprechend lief Hardgolds Kopf purpurn an. «Was hast du gerade gesagt?» Schnellen Schrittes stampfte er auf den Sklaven zu und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Dann brüllte er ihn an. «Was glaubst du eigentlich, mit wem du sprichst, du verdammter Wurm. Ich werde dir…»

Das war Alvas Chance. Er war abgelenkt. Sie rannte aus dem Keller hinaus, hinüber zu ihrem alten Zimmer. Die Tür stand noch offen und Emely sass mit bleichem Gesicht auf dem Bett. Alva packte sie an der Hand und zerrte sie hoch. «Das ist mein Zimmer. Du schläfst im Heu», zischte sie.

In Windeseile brachte sie das Mädchen in den Kellerraum und schubste sie auf einen Heuballen, schnellte sofort wieder zurück und schloss die Tür hinter sich. Dann presste sie ihr Ohr gegen die Tür und horchte. Für einen Moment vernahm sie die dumpfen Schmerzensschreie des mutigen Sklaven durch das dicke Gemäuer. Nach einer Weile schien Herr Hardgold aber seine Lust verloren zu haben. Seine schweren Schritte stapften dem Flur entlang und entfernten sich allmählich. Er hatte nichts bemerkt. Sie hatte es geschafft. Erschöpft legte sie sich auf das Bett und wartete. Und wartete. Das letzte Licht der Abenddämmerung drang durch das vergitterte kleine Fenster, das erste Zirpen der Grillen eröffnete die Nacht.

Es dauerte einige Stunden, bis Alva schliesslich das Getrappel von Pferdehufen vernehmen konnte. Durch das Fenster sah sie die Kutsche des Grafen herannahen. Der Moment war gekommen. Sie zog den Meissel, den sie aus der Mine geschmuggelt hatte, aus ihrem Hosenbein hervor und hielt ihn mit beiden Händen fest umklammert dicht an ihre Brust. In diesem Moment schwor sie: Dieser Mistkerl würde sich heute Nacht zum letzten Mal an jemandem vergreifen.

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Das Fenster der Träume