Das Kollektiv
Oder: Wo kommen all die Arschlöcher her?
Roger konnte sich kaum daran erinnern, wie er gestorben war. Eben noch schlenderte er nichtsahnend über die Strasse - sein Lieblingssong dröhnte aus seinen Kopfhörern – und im nächsten Moment sass er hier. Ein lautes Hupen hallte noch in seinen Ohren nach, ohne dass er es aber zuordnen konnte. Jede Sekunde sterben drei Menschen, das hatte er zumindest mal gelesen. Dafür war es hier aber ziemlich leer. Genaugenommen war er sogar der einzige, der gerade im Wartezimmer sass. Die spärliche Einrichtung erinnerte ihn an seinen letzten Besuch beim Zahnarzt. Eine Topfpflanze stand in einer Ecke und schien genauso gelangweilt zu sein wie er. Die Uhr, die an der Wand hing, zeigte exakt 12:05 Uhr an. Genau wie schon die ganze Stunde zuvor, oder wie lange auch immer er bereits hier wartete. Ob es wohl die Idee war, das Ganze erträglicher zu machen? Zeit um zu akzeptieren, dass man tot war?
Roger zumindest hatte es ziemlich schnell angenommen. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Er war ein guter Mensch, hatte immer vorbildlich gelebt; er war stets höflich, hatte jedes Jahr etwas gespendet, den Müll ordentlich getrennt... er hatte nichts zu befürchten.
Endlich öffnete sich die Tür, und eine junge Dame in einem weissen Kittel trat in das Wartezimmer. Durch die Tür hinter ihr drang gellend weisses Licht, neblige Wolkenfetzen krochen über den Boden herein. Das musste bestimmt der Himmel sein, dachte sich Roger, und freute sich insgeheim auf das, was ihn gleich erwarten würde.
Die Dame rückte ihre dicke Hornbrille zurecht und las mit monotoner Stimme von ihrem Klemmbrett ab. «Roger Albrecht?»
Roger blickte sich kurz im Raum um und betrachtete die leeren Stühle. Dann stand er auf. «Das bin ich», bestätigte er bestimmt.
«Folgen Sie mir bitte», sagte die Dame ohne aufzusehen, und verschwand wieder durch die Tür.
Roger folgte ihr und trat leicht nervös in das wolkige Licht hinein. Für einen kurzen Moment sah er nichts. Es war so hell, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Nach einer Weile liess die Helligkeit aber nach, und was er dann sah, verschlug ihm regelrecht den Atem. Vor ihm, über ihm, unter ihm, ja überall, erstreckte sich die unendliche Weite des Universums. Tausende Sterne erleuchteten das ewige Schwarz des Weltalls, ganze Galaxien drehten sich in weiter Entfernung um die eigene Achse. Die Tür hinter Roger war verschwunden. Er fühlte sich schwerelos, empfand nichts anderes als die pure Überwältigung dieses Anblicks. Ihm kamen die Tränen.
«Ist das der Himmel?» fragte er mit trockener Kehle.
Die Dame im weissen Kittel schwebte an ihn heran und starrte völlig unbeeindruckt auf ihre Notizen. «Nein. Also, wollen wir anfangen? Ich habe noch andere Termine.» Ihre dünne Schmirgelpapierstimme wollte nicht so ganz zur Erhabenheit der Szenerie passen.
«Öhm ... natürlich», stotterte Roger. «Aber wenn Sie mir die Frage erlauben. Wo sind wir denn dann?»
Die Dame seufzte und schob erneut ihre Brille zurecht. «Sehen Sie das da unten?»
Roger blickte nach unten. Erst jetzt fiel ihm ein gigantisches Wesen auf, das in weiter Entfernung unter ihm wegschwebte. Es musste grösser sein als die gesamte Erde, in allen Farben strahlend, mit einem riesigen Rumpf und Hunderten von Tentakeln, die Tausende von Kilometern lang sein mussten. «Was zum Teufel ist das?», fragte Roger mit hochgerissenen Augenbrauen.
«Nicht der Teufel,» entgegnete die Dame kühl. «Das ist das Kollektiv. Wenn ihr Menschen geboren werdet, dann geht ihr hinaus in die Welt, ihr lebt, sammelt Erfahrungen, entwickelt Ideen, empfindet Freude und Schmerz und Spass und Angst. Und wenn ihr dann sterbt, dann tragt ihr die gesammelten Erlebnisse zurück zum Kollektiv. Die Splitter kommen zurück zum Spiegel, wenn man so will. Dadurch wird das Kollektiv weiser und mächtiger. Ihr alle tragt euren Teil zur Stärkung des Kollektivs bei. Also zumindest ein paar von euch. Nicht alle Erfahrungen sind wertvoll. Darum werde ich nun über Sie richten.»
«Über mich richten? Kein Problem.» Roger spürte eine ungeahnte Freud in seiner Brust. Endlich würde es sich auszahlen, dass er immer zuvorkommend war, nie mal einfach nur auf sich geschaut hat, nie asozial und gemein war.
«Also...», begann die Dame mit Blick auf ihre Notizen. «Sie haben sich in 82% Ihrer Entscheidungen für das Wohl anderer entschieden. Sie haben 423 Mal jemandem den Vortritt gelassen, haben 82 Mal auf das letzte Stück Kuchen verzichtet und 4 Mal nicht ausgenutzt, dass eine Frau völlig betrunken war. Sie sind ein klarer Fall für die Kategorie ‘netter Mensch’.»
Rogers Wangen erröteten vor Stolz.
«Das ist jammerschade», sagte die Dame.
«Wie schade?», entgegnete Roger stirnrunzelnd.
«Das können wir leider gar nicht gebrauchen. Ich muss Sie leider zurückschicken. Sie müssen noch eine Runde leben.»
«Was? Aber ... Sie meinten doch, ich sei ein guter Mensch gewesen.»
«Ja eben ... Das bringt dem Kollektiv leider herzlich wenig. Sehen Sie, das Kollektiv ist nicht allein im Universum. Es gibt noch andere Kollektive, die es zu bekämpfen gilt. Das Überleben des Stärkeren, wenn man so will. Wir sammeln hier nur Erfahrungen, die uns in diesem Kampf helfen. Gemeine und perfide Ideen, hinterhältige Manöver, listige Listen, solches Zeug. Wir brauchen ... wie soll ich das verständlich ausdrücken ... Arschlöcher.»
«Arschlöcher? Aber...»
«Sie sind leider viel zu nett, Herr Albrecht.»
Roger überlegte. Er musste sich doch irgendwie verteidigen können. «Aber ich war nicht immer nett. Ich habe mal einen Stift in einem Kaufhaus gestohlen.»
«Das stimmt», entgegnete die Dame. «Und das wissen wir zu schätzen. Aber das ist ja wohl nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Und sie haben es bereut, nicht wahr? Sie hatten ein schlechtes Gewissen.» Sie seufzte. «Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber mir sind die Hände gebunden. In vierzig Jahren Lebensdauer haben Sie sich noch nicht einmal geprügelt.»
«Aber ich hatte schlüpfrige Gedanken!», protestierte Roger verzweifelt. «Ich habe mir vorgestellt, wie ich mit der Lehrerin meines Sohnes...»
«Ach Herr Albrecht», sagte die Dame und klang dabei tatsächlich Mitleiderfüllt. «Wer hat das nicht? Es tut mir leid, aber ich muss Sie leider zurückschicken. Sie müssen leider wieder leben. Aber keine Sorge, bestimmt klappt es beim nächsten Mal.
Roger wollte gerade weiterprotestieren und davon erzählen, wie er einst seinem nervigen Nachbarn einen schlechten Tag wünschte, aber es war bereits zu spät. Das Universum um ihn herum löste sich auf und er befand sich plötzlich in einem endlosen, leeren Raum aus weissem Licht. Er spürte, wie er weggezogen wurde, weg vom Kollektiv, hinein ins Ungewisse.
Er musste also wohl oder übel noch einmal ein Leben führen. Und in diesem Moment schwor er sich: Dieses Mal werde ich ein Arschloch sein!